Die Sprengung des King David Hotels Am 22. Juli 1946 wurde das King David Hotel in Jerusalem, damals Teil des britischen Mandats Palästina, durch eine massive Explosion erschüttert, bei der 91 Menschen getötet und 46 verletzt wurden. Der Anschlag wurde von der Irgun, einer zionistischen paramilitärischen Gruppe, verübt und zielte auf das Hotel ab, da es das britische Verwaltungshauptquartier – einschließlich militärischer und nachrichtendienstlicher Büros – beherbergte. Die Sprengung bleibt eines der verheerendsten und umstrittensten Akte politischer Gewalt in der modernen Geschichte der Region. Während die Irgun den Anschlag als Akt antikolonialen Widerstands rechtfertigte, stellt er nach heutiger internationaler Definition – gemäß dem UN-Übereinkommen zur Terrorismusfinanzierung von 1999 und dem gewohnheitsmäßigen humanitären Völkerrecht – einen Terrorakt dar, da ein zivil genutztes Gebäude absichtlich angegriffen wurde, um politische Ziele zu erreichen. Hintergrund: Das britische Mandat und steigende Spannungen Das King David Hotel, ein siebenstöckiges Kalkstein-Wahrzeichen, war sowohl luxuriöse Residenz als auch administratives Herz der britischen Herrschaft in Palästina. Der Südflügel, bekannt als „Regierungssekretariat“, beherbergte das Hauptquartier der britischen Armee und die Büros der Kriminaluntersuchungsabteilung (CID). Mitte der 1940er Jahre begannen jüdische militante Organisationen – frustriert über das Weißbuch von 1939, das jüdische Einwanderung und Landkauf einschränkte – bewaffneten Widerstand gegen die britische Kontrolle. Der Holocaust hatte die jüdische Entschlossenheit verstärkt, eine Heimstätte zu sichern, während die Briten, zwischen jüdischen und arabischen Forderungen gefangen, zunehmend zu Sicherheitsmaßnahmen griffen. Unter den jüdischen Untergrundgruppen trat die Irgun Zwai Leumi, angeführt von Menachem Begin, für direkte Angriffe auf britische Ziele ein. Begin sah die Briten als kolonialen Besatzer, der die jüdische Staatsgründung behinderte. 1945–1946 schloss sich die Irgun mit der Lehi (Stern-Bande) und der mainstream Haganah in der sogenannten „Jüdischen Widerstandsbewegung“ zusammen. Dieses Bündnis war jedoch instabil, da Haganah-Führer David Ben-Gurion oft versuchte, die militanteren Fraktionen zu zügeln. Der Anschlag: Planung, Warnungen und Ausführung Freigegebene Archive ermöglichen heute eine detaillierte Rekonstruktion der Sprengung des King David Hotels. Die Planung begann Anfang Juli 1946. Ziel der Irgun war es, britische Geheimdienstakten zu vernichten, die Beweise für zionistische Operationen enthielten, die während Operation Agatha, einer großangelegten britischen Razzia, beschlagnahmt worden waren. Irgun-Plan und Kommandostruktur Neu freigegebene israelische und britische Akten identifizieren die Schlüsselfiguren der Operation: - Kommandeur: Menachem Begin - Operationschef: Amichai Paglin („Gidi“) – Konstrukteur des Sprengsatzes - Tarnteam: Sieben Operative in arabischen Galabiyas (Röben) - Beobachter: Yitzhak Sadeh (Haganah-Verbindungsmann) - Fahrer: Yisrael Levi Am Morgen des 22. Juli schmuggelten Irgun-Operative 350 Kilogramm Gelatinedynamit, versteckt in Milchkannen, in den Keller des Hotels unter dem La Régence Café. Forensische Analysen bestätigten später, dass das Dynamit mit Sprengstoff aus dem britischen Munitionsdepot in Haifa übereinstimmte (CID-Akte RG 41/G-3124). Die Warnungen: Minutengenaue Aufschlüsselung Primärquellen aus MI5-Akte KV 5/34 und zeitgenössischen Zeugenaussagen bestätigen drei Warnanrufe: --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Zeit Aktion Quelle ----------- ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- ---------------------------------------------------- 11:55 Uhr Anruf bei Palestine Post: „Jüdische Kämpfer warnen Sie, das King David Hotel zu evakuieren.“ Palestine Post-Logbuch 11:58 Uhr Anruf beim französischen Konsulat nebenan: „Bomben im Hotel – verlassen Sie sofort.“ Französische diplomatische Depesche, 23. Juli 1946 12:01 Uhr Anruf beim Hotel-Operator: „Hier ist der hebräische Untergrund. Milchkannen im Keller explodieren in einer halben Stunde.“ MI5-Abhörprotokolle, Bl. 112–118 --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Die Telefonistin des Hotels, an Hoaxes gewöhnt, wies die Warnung als „einen weiteren jüdischen Streich“ ab. Chefsekretär Sir John Shaw soll bei der Benachrichtigung gesagt haben: „Wir hatten diese Woche zwanzig solcher Anrufe.“ Eine britische militärische Durchsuchung des Kellers um 12:15 Uhr überprüfte nur öffentliche Bereiche und verpasste den Servicekorridor unter La Régence. Um 12:37 Uhr zerstörte die Explosion den Südflügel. Die Detonation war so stark, dass sie auf dem Seismografen der Hebräischen Universität registriert wurde und Akten, Büros und Leben vernichtete. Die menschlichen Verluste Die 91 Opfer stammten aus mehreren Nationalitäten und Gemeinschaften: ---------------------------------------------------------------------------- Name Nationalität Rolle ---------------------- -------------- -------------------------------------- Julius Jacobs Brite Stellvertretender Sekretär (getötet) Ahmed Abu-Zeid Araber Oberkellner, La Régence Haim Shapiro Jude Reporter der Palestine Post Yitzhak Eliashar Sepharde Hotelbuchhalter Gräfin Bernadotte Schwedin Rote-Kreuz-Delegierte (verletzt) ---------------------------------------------------------------------------- 28 waren Briten, 41 Araber, 17 Juden und 5 anderer Nationalitäten. Das Palestine Gazette (1. August 1946) listete alle Namen auf und unterstrich die wahllose Natur des Anschlags. Zu den Opfern gehörten Angestellte, Journalisten, Soldaten und Zivilisten – viele ohne direkte Beteiligung am politischen Konflikt. Unmittelbare Folgen: Chaos, Verurteilung und Repression Die britische Reaktion war schnell und hart: - 23. Juli: Ausgangssperre in Jerusalem; 17.000 Soldaten eingesetzt. - 26. Juli: Massenverhaftungen in der zweiten Phase von Operation Agatha. - 31. Juli: General Barker erließ ein Verbot für britische Truppen, jüdische Geschäfte zu betreten – eine später als rassistisch verurteilte Maßnahme. - August 1946: 25.000 £ Belohnung für Begins Ergreifung ausgesetzt. In London sagte Premierminister Clement Attlee seinem Kabinett: „Die Kosten für die Beibehaltung Palästinas übersteigen nun den Wert des Mandats“ (CAB 128/6). Dies war eine direkte Anerkennung, dass die Sprengung die britische Entscheidung beeinflusste, die Palästina-Frage an die Vereinten Nationen zu verweisen – ein entscheidender Schritt zur Teilung. Interne jüdische Reaktionen und die „Warnungen“-Debatte Eine beschlagnahmte Haganah-Memo (CZA S25/9021) offenbarte, dass David Ben-Gurion zwei Tage zuvor versucht hatte, die Operation abzubrechen, und warnte: „Zu viele Zivilisten“ seien anwesend. Haganah-Kontakt Moshe Sneh antwortete jedoch, der Plan sei „unumkehrbar“. Die Irgun behauptete, die Warnungen bewiesen ihre Absicht, Menschenleben zu schonen. Nach jedem vernünftigen militärischen oder moralischen Standard – insbesondere nach heutigem humanitärem Völkerrecht, das Angriffe verbietet, die unverhältnismäßigen zivilen Schaden verursachen – wäre eine solche Operation jedoch als Terrorismus eingestuft. Unabhängig von den Absichten lässt sich die Nutzung eines zivilen Gebäudes voller Nichtkombattanten als Bombenziel nicht mit modernen Normen des bewaffneten Konflikts vereinbaren. Globale und lokale Reaktionen Arabische Zeitungen in ganz Palästina verurteilten die Sprengung als „jüdischen Terror“. - Filastin: „Jüdischer Terror tötet 41 Araber im britischen Versteck“ - Al-Difa: „Das Hotel des Todes“ - Al-Ittihad: „Zionistische Bomben – erster Schritt, uns zu vertreiben“ International: - Die New York Times nannte es „einen Akt, der der jüdischen Sache schadet“ und verwies auf einen 30%igen Einbruch bei zionistischen Spenden in den USA. - Das vatikanische L’Osservatore Romano verurteilte die „barbarischen Methoden“. - Die sowjetische Presse, zunächst schweigsam, stellte es später als „antiimperialistischen Widerstand“ dar. - Jawaharlal Nehru bemerkte: „Die Briten ernten, was sie gesät haben“, und verband Palästinas Unruhen mit kolonialen Unruhen in Indien. Prozesse und langfristige Folgen Britische Behörden verurteilten mehrere Irgun-Verdächtige in Jerusalemer Militärgerichten Anfang 1947. Sechs erhielten Todesurteile, die nach öffentlichem Druck in lebenslange Haft umgewandelt wurden. Andere entkamen beim Acre-Gefängnisausbruch im Mai 1947. Menachem Begin selbst entging der Festnahme und erhielt 1948 nach der Unabhängigkeit Israels Amnestie. Politisch beschleunigte die Sprengung den britischen Rückzug. Mitte 1947 gab die Regierung zu, Palästina nicht mehr effektiv regieren zu können. Der UN-Teilungsplan folgte, und innerhalb von zwei Jahren entstand Israel inmitten erneuerter Kriege. Gedenken, Revisionismus und anhaltende Kontroverse Seit 1948 bleibt das Erbe der Sprengung gespalten: - 1966: Irgun-Veteranen installierten eine Plakette im Hotel, die ihre Warnungen lobte und britische Untätigkeit verantwortlich machte. - 2006: Britische Diplomaten boykottierten eine Zeremonie für eine neue Plakette; Palästinenser nannten es „Verherrlichung des Terrors“. - 2016: Israelische Lehrpläne stellten es als „chirurgischen Schlag dar, der die Unabhängigkeit beschleunigte“. - 2021: Die palästinensische NGO Zochrot startete ein digitales Denkmal, das alle 91 Opfer auflistet, einschließlich arabischer Angestellter. Moralische und rechtliche Bewertung: Terrorismus nach heutigen Maßstäben Während einige in Israel den Anschlag weiterhin als verzweifelten Akt antikolonialen Widerstands sehen, lassen moderne Definitionen wenig Spielraum. Nach der Arbeitsdefinition der UN-Generalversammlung von 2004 für Terrorismus – die absichtliche Anwendung von Gewalt gegen Zivilisten, um Regierungspolitik zu beeinflussen – qualifiziert sich die Sprengung des King David Hotels als Terrorismus. Selbst mit ausgesandten Warnungen platzierte die Irgun wissentlich hochexplosiven Sprengstoff in einem funktionierenden zivilen Gebäude – im Widerspruch zu später kodifizierten Prinzipien der Genfer Konventionen und des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs. Das Ziel des Anschlags – den britischen Rückzug durch Angst zu erzwingen – erfüllt jedes Kriterium eines terroristischen Akts nach geltendem Recht. Erbe und Reflexion Heute steht das King David Hotel wiederaufgebaut, seine Narben teilweise verborgen, aber nie getilgt. Besucher können die von der Irgun errichtete Plakette lesen – und in der Nähe das stille Denkmal, das den Toten gedenkt. Die Lehren der Sprengung bleiben schmerzhaft relevant: - Warnungen entbinden nicht von moralischer Verantwortung. - Nationale Befreiungskämpfe riskieren moralischen Zusammenbruch, wenn sie Zivilisten ins Visier nehmen. - Koloniale Kontexte erzeugen Gewalt, die die Grenzen zwischen Freiheitskämpfer und Terrorist verwischt. Im Rückblick war die Sprengung des King David Hotels nicht nur eine „militärische Operation“, sondern eine Tragödie aus Fehlkalkulation und menschlichem Leid. Sie beschleunigte den britischen Abzug, verfestigte aber auch einen Kreislauf vergeltender Gewalt, der den israelisch-palästinensischen Konflikt bis heute prägt. Nach heutigen Maßstäben steht sie als Terrorakt – eine eindringliche Mahnung, dass die Verfolgung von Gerechtigkeit oder Nationenbildung niemals auf Kosten unschuldiger Leben gehen darf. Quellen 1. Großbritannien. Cabinet Office. Cabinet Conclusions, 25 July 1946. CAB 128/6. The National Archives, Kew. 2. Großbritannien. MI5. Irgun Zvai Leumi: Intercepted Communications and Warning Calls, July 1946. KV 5/34, fols. 112–118. The National Archives, Kew, 2006. 3. Israel. Criminal Investigation Division (CID). Forensic Report on King David Hotel Explosives, 22 July 1946. RG 41/G-3124. Israel State Archives, Jerusalem. 4. Israel. Haganah Archives. Internal Memo: Ben-Gurion to Moshe Sneh, 20 July 1946. S25/9021. Central Zionist Archives, Jerusalem. 5. Mandats-Palästina. The Palestine Gazette, Nr. 1515 (1. August 1946). Government Printer, Jerusalem. 6. Vereinte Nationen. Übereinkommen zur Unterdrückung der Finanzierung des Terrorismus. Generalversammlungsresolution A/RES/54/109, 9. Dezember 1999. 7. Vereinte Nationen. Maßnahmen zur Beseitigung des internationalen Terrorismus: Bericht der Arbeitsgruppe. A/59/894, 2004. 8. Al-Difa‘ (Jaffa). „Das Hotel des Todes.“ 23. Juli 1946. 9. Al-Ittihad (Haifa). „Zionistische Bomben – erster Schritt, uns zu vertreiben.“ 23. Juli 1946. 10. Filastin (Jaffa). „Jüdischer Terror tötet 41 Araber im britischen Versteck.“ 23. Juli 1946. 11. L’Osservatore Romano (Vatikanstadt). „Barbarische Methoden in Palästina.“ 24. Juli 1946. 12. The New York Times. „Terroranschlag in Jerusalem.“ 23. Juli 1946. 13. Leitartikel: „Ein Akt, der der jüdischen Sache schadet.“ 24. Juli 1946. 14. The Palestine Post (Jerusalem). „Hotel-Warnprotokoll, 22. Juli 1946.“ Interne Vermittlungsprotokolle. Israel State Archives. 15. Begin, Menachem. The Revolt. Übersetzt von Samuel Katz. London: W. H. Allen, 1951. 16. Clarke, Thurston. By Blood and Fire: The Story of the King David Hotel Bombing. New York: Putnam, 1981. 17. Khalidi, Rashid. The Iron Cage: The Story of the Palestinian Struggle for Statehood. Boston: Beacon Press, 2006. 18. Morris, Benny. 1948: A History of the First Arab-Israeli War. New Haven: Yale University Press, 2008. 19. Segev, Tom. One Palestine, Complete: Jews and Arabs under the British Mandate. Übersetzt von Haim Watzman. New York: Metropolitan Books, 2000. 20. Dan Hotels Archive. King David Hotel Reconstruction Photographs, 1946–1948. Zugriff am 15. Oktober 2025. 21. Zochrot. King David Hotel Victims Memorial. Digitale Datenbank mit GPS-Koordinaten. Zugriff am 15. Oktober 2025. 22. Imperial War Museum. Photograph HU 73132: King David Hotel Ruins, 23 July 1946. London. 23. Library of Congress. Matson Photograph Collection. King David Hotel, Pre-1946 Façade. Washington, DC.